Salome Brenner
Schmerzgrenzen überschreiben. Schmerzgrenzen überschreiten:
Künstlerische Arbeit Selbstversuch.
…es ist einfach schön,
Bilder auf freier Wildbahn, im öffentlichen Raum zu sehen, artgerecht sozusagen, dort wo sie auch wirklich gesehen werden, wo fremde Augen auf sie schauen – Denn dazu sind sie da. Ich gehe jedenfalls nicht davon aus, dass man mühsam und überlegt großflächig leuchtende, glühende Farben auf Leinwände aufbringt, Augen, Landschaften, Gesichter konturiert und komponiert, damit die Produkte der Arbeit und Bemühung danach im lichtlosen Depot, in einer Abstellkammer aneinander gelehnt jahre-, jahrzehntelang ungesehen verdämmern. Bilder senden Signale, Zeichen. Und Signale wollen gesehen, gelesen, beachtet werden.
Ich weiß, man wird vielleicht sagen, das sei doch eine sehr robuste, am Materiellen orientierte Sichtweise. Und man hat recht. Denn irgendwie sind Bilder tatsächlich Materie, reine Materie. Anders als Gedichte oder literarische Texte schwelgen sie geradezu rauschhaft in Materie: ein gelber Fleck hier, eine getrocknete Ölfarbenrinne, die Musterung der Leinwand, tiefrote Striemen und blaue Streifen dort: Bilder sind konkrete Objekte, die sich gerne im hier und jetzt zeigen und die wahrgenommen werden wollen. Gedichte kann man mühelos in einer Schublade aufbewahren – für Gemälde ist es eine Zumutung.
Für die vor Farbigkeit strotzenden Bilder von Salome Brenner in besonderem Maße. Denn man sieht ihnen an und glaubt förmlich zu spüren, dass die raus wollen – raus aus dem Depot, raus aus der Wohnung – vielleicht auch raus aus dem Körper und dem Kopf der Künstlerin. Oder sollte man sagen Artistin, ja vielleicht ist der Vergleich mit einer Artistin gar nicht so verkehrt, gar nicht so ver-rückt –„Und setzet ihr nicht das Leben ein, / Nie wird euch das Leben gewonnen sein“ singen die Reiter in Schillers Wallenstein, und es ist kein Zufall, dass Alexander Kluge in seinem rebellischen Film „Artisten in der Zirkuskuppel. – Ratlos“ gewagten Auftritten in der Manege genau diese Verse unterlegt. Ohne ihr zu nahetreten zu wollen vermute ich, Salome Brenners Malerei und Dichtung könnte solch ein riskanter Hochseilakt sein – ein Seiltanz immer wieder zurück ins Leben, wenn man so will. Und ich meine das gar nicht metaphorisch oder bildlich, sondern sehr konkret: Ungefähr so wie in 1001 Nacht, wo Scheherazade zwar nicht durch das Malen, sondern durch die Kunst des Erzählens sich Nacht um Nacht zum Weiterleben und Überleben bringt, zwingt. Könnte diese Obsession des Malens nicht auch damit zu tun haben, dass hier jemand überleben und mit aller Kraft weiterleben will und, damit sind wir wieder im hier und jetzt dieser Ausstellung, genau dieses Zeichen auch unübersehbar sendet.
Größere als ich, allen voran Erich Fried und Paul Hoffmann haben nachdrücklich das Leid, das schicksalshafte Erleiden, die Not, das „Notschrei“-Artige in den Bildern und Gedichten von Salome Brenner betont. Und niemand wird diesen ernsten Hintergrund in Frage stellen. In meinen kurzen Vorbemerkungen hier wird dieser Aspekt nicht groß in Erscheinung treten. Nicht aus Lieblosigkeit oder aus Kälte, sondern aus zwei ganz anderen Gründen. Zum Einen will ich mich nicht als Außenstehender anheischig machen, über extreme Gefühlszustände und Erfahrungen anderer einfühlsam oder kompetent zu befinden. Zum anderen sind wir nicht hier um zu trauern oder um betroffen zu sein, sondern um die Bilder und Texte auf uns einwirken zu lassen.
Über ihre Arbeit sagt sie, dass Sie oft bis zum letzten Augenblick nicht wüsste, ob ein Bild oder ein Gedicht daraus würde. Ich finde das sehr interessant. Über Frau Brenner hinausgehend. Ob Michelangelo oder William Blake, Victor Hugo oder Picasso, Günter Grass oder Peter Weiss– die Grenzgänger zwischen den Künsten sind mehr als bloß künstlerische Doppel- und „Mehrfachbegabungen“ … das sind eher hilflose Benennungsversuche für ein viel bedeutsameres Phänomen
Als notorische Grenzüberschreiter, Kunstschamanen und Wahrnehmungsakrobaten überwinden diese dichtenden Maler und malenden Dichter die Gesetze der ästhetischen Schwerkraft und versuchen, das Regelwerk der Kunst und des Kunstbetriebs zum Tanzen zu bringen:
Zwischen den Disziplinen, doch im Zentrum der Sinne ist ihr Ort. Jenseits der Institutionen, doch diesseits der Individuen, die auf allen Kanälen angesprochen werden, um sie ein Stück aus der alltagsnormierten Routine zu werfen.
Diese Nonkonformisten haben in einer Welt der Hochspezialisierung einen schweren Stand. Schnell ist man mit der lähmenden Frage, was einer denn „eigentlich“ sei, zur Hand, um ihn in den üblichen Rahmen einzupassen.
Es ist an der Zeit, diese unproduktive Haltung aufzulösen und das Potenzial dieser Phantasie- und Imaginationsimpulsgeber nicht als Kuriosum, sondern als Chance zu begreifen: Der Dialog von Sprache und Bildern führt zu Spannungen, Widersprüchen, Auseinandersetzungen und intellektuellen Funkenschlägen überraschendster Art, setzt Energien frei, die im monologischen Kunstgeschäft absorbiert sind.
Bis zum letzten Moment – bevor man mit einer Arbeit anfängt – nicht zu wissen, welche Gestalt das, was gerade zu entstehen im Begriff ist, annehmen wird – was heißt das? Bei Günther Grass war es z.B. so, dass er, konfrontiert mit der brutalen, elenden, unbegreifbaren Welt Kalkuttas, die ersten Wochen lang nicht zu schreiben wagte, sondern nur mit groben, schnellen Strichen skizzierte: Bettler, Verhungernde, Kranke, Besessene, götterartige Wesen. Bilder verlangen nicht nach Deutung, sagt Grass und ich fürchte hier irrt Grass. Bilder sind bereits Deutung. Keine verbalisierte Deutung gewiss, aber Deutung: keine abstrakten Begriffe treten zwischen das Ding vor unseren Augen und das Bild hinter unseren Augen, aber wir bestimmen den Ausschnitt, die Größe, Farbigkeit, Plastizität des wahrgenommenen Objekts. Wir bestimmen auch seine Emotionalität, legen fest, ob es uns ergreifen oder ängstigen darf, ob es uns schier überflutet oder ob wir es im Griff haben.
Ich male also bin ich – heißt auch: also bin ich der oder diejenige, die die sogenannte Wirklichkeit kontrolliert. Und ich wage zu sagen Salome Brenners. Bilder sind extrem gefasst, sind Ausdruck des Bemühens um Kontrolle ihrer Welt – IHRER Welt. Wort oder Bild? – das ist für sie, denke ich je mehr ich von ihr sehe und lese, nicht so sehr der Ausdruck einer Hilflosigkeit oder Unsicherheit, sondern ein fast souveräner Gestus in der Wahl ihrer Mittel, die ihr beide zur Verfügung stehen.
Die Angst ist undisputierbar sagt die wortgewaltige Ingeborg Bachmann einmal und die Psychotherapeutin Hannelore Eibach spricht davon, dass wir in „Zeiten tiefen Leides an die Grenzen des Wortes“ stoßen. Mit diesem Wissen schrieb Bachmann dann Bücher über extreme Momente der Angst, gelegentlich skizzenhaft, hautnah, schmerzhaft – aber doch immer – leiden-schaftlich kontrolliert. Und Eibach begleitete ihre Krebspatienten durch die Krankheit indem sie sie bis zu letzten Moment „nötigte“ zu malen oder zu zeichnen. Nichts von Therapie, das meine ich nicht! Vielmehr – es fällt schwer das auszudrücken: den geschunden Körper zum Reden zu bringen, ihm Flügel aus Papier zu geben, den Raum der verbleibenden Autonomie mit Prothesen aus Farbe und Fühlern aus Wörtern bis ins letzte auszuloten, koste es was es wolle und bis zum letzten Augenblick ein Da-Sein zu ermöglichen. Eine Art Rückeroberung des Lebens. Und sogar eine Erweiterung ins Bildhaft konkrete.
Italo Calvino fordert in seinen Vorschlägen für das „prossimo millenio“ einen neuen Sinn der Bildhaftigkeit, „visibilità“, der die logozentrischen Barrieren aufbrechen könnte, ohne von Bilderfluten überwältigt zu werden.
„Künstlerische Grenzgänger“ sind also personifizierte „Antilogozentriker“, Platzhalter des analogen Wahrnehmungstypus. Relikte oder Avantgarde – Alternativen dieser Art treffen nicht das Wesentliche. In Bildern schreiben, schreibend Bilder zu entwickeln – mit einer Hand, einem Gehirn, in einem komplexen, intensiven Arbeitsprozess: dies ist es, was die Arbeit der künstlerischen Grenzgänger aus den Standards hervorhebt und zu einer ganzheitlichen Erfahrung werden lässt. Während innere Bilder über Gehirn, Hand, Pinsel in Ab-Bilder verwandelt werden, findet ein nicht weniger spannender Prozess statt. Bilder und Abbilder bekommen Namen, werden sprachlich kommunizierbar.
Ist diese Doppelkodierung unvernünftig, weil unnötig, also redundant? Weshalb trägt man Bilder der Sprache, Sprache den Bildern nach? Weil man den Worten misstraut? Aber: muss man Bildern nicht genauso misstrauen? Weil man auch den Bild-Sprachen, dem „Metaphern-Blätterteig“ (Barthes) misstraut? Oder hält man das Bild für gegenständlicher? Dinglicher? Weil damit Inhalte berührt, nicht nur gemeint werden? Und warum jagen dieselben Künstler dann mit ihrer Sprache den Bildern hinterher? Weil die Sprache etwas kann, was Bilder nicht können: Zusammenhänge herstellen, Phänomene auf Begriffe bringen, Kontexte weben. Peter Weiss, einer aus der langen Schar der zwischen Bild und Wort Getriebenen, gibt eine kurze Begründung, die überzeugt:
„Das Bild liegt tiefer als die Worte. […] Je besessener er [der Künstler] vom Bild ist, je weniger er sich um die Anlässe des Bildes kümmert, desto überzeugender wird die erreichte Wirkung. Worte enthalten immer Fragen. Worte bezweifeln die Bilder. Worte umkreisen die Bestandteile von Bildern und zerlegen sie. Bilder begnügen sich mit dem Schmerz. Worte wollen vom Ursprung des Schmerzes wissen.“
Im artistischen Zusammenspiel von Sprache und Bild entsteht so mehr als bloße illustrative oder textuelle Addition. Wort-Bild-Sprache ist praktizierte Potenzierung der Kommunikations-Intensität und Steigerung der Wahrnehmungs-Vehemenz: Farben und Bilder können Affekte real präsent erscheinen lassen, Sprache aber vermag es, den Affekt zu begründen, ihn transparent und verstehbar zu machen. Beides zusammen: der Quantensprung zum kontrapunktisch grundierten Ausdruck. Beide Gehirnhälften geraten simultan in Bewegung.
Es kann kein ganzer Zufall sein, dass, Bildverbot hin oder her, die neugierigsten, eigenwilligsten, eigen-sinnigsten Autoren / Künstler bei genauer Betrachtung auf zwei Ebenen dachten, arbeiteten. Leonardo, Michelangelo, Goethe, Blake, Victor Hugo, E. T. A. Hoffmann, Raabe, Peter Weiss, Günter Kunert, Dürrenmatt, Franz Kafka. Ja, auch er, obwohl man sich angewöhnt hat, ihn als reinen Textdichter zu sehen. Dabei sind manche seiner Skizzen wie Modelle zu seinen Experimenten. In einem Gespräch mit G. Janouch bekennt Kafka:
„Mein Herumzeichnen ist ein sich ständig wiederholender und misslingender Versuch primitiver Magie. […] Alle Dinge der Menschenwelt sind zum Leben erweckte Bilder. Die Eskimos zeichnen auf das Holz, das sie entzünden wollen, einige Wellenlinien. Das ist das magische Bild des Feuers, das sie dann durch die Reibung des Entzündungsbolzens zum Leben erwecken. Dasselbe mache ich. Ich will mittels meiner Zeichnungen mit den Gestalten, die ich sehe, fertig werden.“
„Ich möchte so gerne zeichnen können. In Wirklichkeit versuche ich es auch immer wieder. Aber es kommt nichts dabei heraus. Es ist eine ganz persönliche Bilderschrift, deren Sinn ich selbst nach einer gewissen Zeit nicht mehr entdecken kann.“
Bei vielen Künstlern der Moderne ist dieses fast manische Bemühen, an die Dinge heranzukommen, mit den Dingen durch ihre Bearbeitung auf vielen Ebenen fertig zu werden, ihnen näher zu kommen oder sie zu bannen, sie in den Griff zu bekommen, auffällig. Dürrenmatt spricht davon, sich „der Zeit stellen“ zu müssen.
An die Dinge heranzukommen, an sich selbst heranzukommen. So nah wie irgend möglich – vielleicht will das auch Salome Brenner. Ihre Gedichte jedenfalls sind für mich ein einziger Suchlauf, ein Vexier-Spiel, ein Fixier-Spiel, dem die „Spielerin“ wieder und wieder entgleitet. Als Seherin, Sucherin, Eremitin, Migrantin, traurige Clownin, Selbstmörderin oder (was plötzlich ganz ähnlich ist) Seiltänzerin.
Vielleicht war der anfängliche Rekurs auf ein Dasein als eine Akrobatin gar nicht so verfehlt. „Seiltanz“ heißt eines ihrer längeren Gedichte und es führt auf schmalem, „glitschigem“ Vers-Seil, am Vers-Strick, genau den Balanceakt zwischen Grund und Abgrund, Tanz und Sturz vor – einen wagemutigen „Tanz auf verkrüppelten Füssen“. Auf Messers Schneide und an der Kippe, dennoch in „Leuchtendem Elend“ und voll von „gesammeltem Schmerz“, krumm und doch gradlinig, unabweisbar – und: vor großem Publikum, die diesem „entfesselten Herz“ applaudiert:
„Von weit durch die Luft: Applaus! Applaus!“
Großes Kino sagt man heute und ich verwende bewusst eine solche manchem trivial erscheinende Wendung, weil ich in Angesicht dieser großen Bilder im großen Raum mehr denn je das Gefühl habe auf der richtigen Spur zu sein. Viele hätten sich vielleicht in Miniaturen verkrochen, in kleinen Formaten verborgen – hier wird der große Auftritt, die öffentliche Demonstration, Konfrontation gesucht. Wenn man so will die große Bühne.
Und auf dieser großen Bühne zeigt sich verwundet und stark zugleich eine Protagonistin in 1000 Gestalten, mutierend in tausend Figuren – und doch immer gleich. Kostüme Masken Flitter Farben mögen wechseln – die dunklen Steinaugen bleiben –Augen – Agenten der Wirklichkeit. Aus Geschichten der Texte werden Gesichte der Bilder – starr, maskenhaft, im Sprung aus der Zeit. Die Augen sprechen eine andere Sprache: erzählen eine stumme Geschichte . Die Geschichte übermalter, überschminkter Trauer.
Gedichte und Texte sind Zeitraffer – Bilder hingegen sind Stoppuhren, Momentaufnahmen. Die Zeit bleibt stehen, die Augen-Blicke werden fixiert.
Insofern ist es ganz stimmig, dieses : bis zum letzten Moment weiß ich nicht, was daraus wird, Bild oder Gedicht.
Bis zum letzten Moment unklar – dann aber fällt die Entscheidung, was gerade gebraucht wird – so oder so. Kristallklar.
Nie Vermischt. Nie schwimmen Texte in Bilder. Verschwimmen Bilder und Texte ineinander.
Es entstehen: Zwei Welten, die sich begleiten und auf Schritt und Tritt überwachen – kommentieren, fixieren, brauchen.
Denn alles ist doppel-gesichtig. Hände, Fühler strecken sich aus, betasten die Oberflächen, loten die Doppeldeutigkeiten wieder und wieder aus:
„Jedes Portrait ist ein abgeschlagener Kopf“ / „Jedes Portrait stellt einen Kopf dar“
oder:
„Jedes Tor ist ein offenes Grab“ / „Jedes Tor ist ein Durchgang“
Salome Brenners Arbeit ist ein Nachstochern, Nachfragen, – nervös, ungeduldig, neugierig, manisch, passioniert zugleich. Denn:
„Wenn ich schreie schlagen sie mich tot“
… „Wenn ich schweige bringe ich mich um.“
Vor diese Alternative gestellt bleibt nur ein Weg: Schreien, Schreiben, Malen! Weil ein „entfesseltes Herz glühen und rasen muß“.
Sind Bilder gemalte Alpträume? Vielleicht. Vielleicht aber auch erfundene Träume. Ich sehe keine zerrütteten, zerfaserten Gesichter bei Brenner, und wenn dann nur im Rückspiegel des Lebens, im Hintergrund.
Sind sie Inversionen der Wirklichkeit ?
Vielleicht aber auch Ikonen der Wirklichkeit?
Stark. Kräfte freisetzend?
Und – im Zusammenspiel mit den Texten – verflüssigte, bewegte Bilder – Kino, großes Kino aus Ikonen. Re-Produktionen, Hunderten, Tausenden – und heute, jetzt ist ihr großer Auftritt: Bühne frei!